Bewertung gilt als die Königsdisziplin der Archive

Irreversible Entscheidungen werden in Ermessensspielräumen mit großen Unschärfen getroffen. Vielfältige gesellschaftliche, technische und rechtliche Faktoren beeinflussen die Bewertungsentscheidungen.

Viele Interessen an Information werden durch die archivischen Bewertungsentscheidungen betroffen. Die Entscheidungen reichen in einen Raum zukünftiger Wissensmöglichkeit hinein, der durch diejengen, die Entscheidungen zu treffen haben, nicht überschaut werden können.

Der Königsweg kann nicht sein, keine Entscheidungen mehr zu treffen, sondern die Entscheidungen zu begründen und zu dokumentieren, damit sie nachvollziehbar werden und Erwartungen der Forschung sich an diesen geschaffenen Realitäten der Überlieferungsbildung orientieren können.

Eine Möglichkeit, Bewertungsentscheidungen rational zu begründen, folgt der Frage, ob die überlieferten Vorgänge und Prozesse die lebenswichtigen Funktionen einer Organisation abbilden. Die funktionale Bewertung von Aufzeichnungen in Bezug auf die Geschäftstätigkeit leitet sich aus dem gesetzlichen Auftrag, den selbstgesetzten Zielen oder dem Businessplan einer Organisation ab.

Es handelt sich in diesen Fällen um Aufzeichnungen aus Geschäftsprozessen, für die Aufbewahrungsregeln erlassen werden sollten oder wurden, also auch für die dauerhafte Aufbewahrung. Nur Letzteres ist im Kern Gegenstand der archivischen Bewertung von geschäftsbezogenen Aufzeichnungen.

Archivische Bewertungsverfahren beziehen daher die Analyse von Geschäftstätigkeiten ein. Sie zielen auf ein Langzeitinteresse zukünftiger Nutzung der Aufzeichnungen ab. Der Wert dieser Unterlagen ist ursprünglich ihr praktischer, unmittelbarer Nutzen für die Geschäftstätigkeit, unabhängig von abgeleiteten Wertermittlungen. Tatsächlich nimmt aber der praktische Nutzen für die Organisation mit der Zeit ab. Das Nutzerinteresse wird sich umso mehr außerhalb der Organisation finden, je älter die Bestände sind. Ausnahmen stellen solche Organisationen dar, bei denen die Memorialfunktion konstitutionell ist, beispielsweise die Kirchen.

Unterlagen, die aktuell für besonders wichtig für eine Organisation betrachtet werden, sind keineswegs jene, die eine Organisation in einer historischen Perspektive am besten charakterisieren. Dennoch bedeutet die verständliche Fokussierung normierter Geschäftstätigkeit auf den primären Wert von Unterlagen für organisatorische Abläufe einen Mehrwert auch für Archive und für archivische Bewertung: Je authentischer und unverfälschter Unterlagen im Recordsmanagement bewahrt bleiben, umso besser können Archive das Bewahrungswürdige erhalten. 

Für die Bewertung wichtige Informationen sind (a) die im Zeitraum der Entstehung von Daten und Unterlagen gepflegten Praxis des Recordsmanagements, (b) die betrieblichen Prozesse und organisatorischen Praktiken des Entstehungszeitraums und (c) die Rolle und Funktion der Beteiligten. In die Bewertungsmodelle sollten die für das Recordsmanagement entscheidenden Voraussetzungen „business needs“, „legal und regulatory requirements“ und der „community and societal expectations“ gemäß Kapitel 5.3.2.3 der ISO 15489 einbezogen werden. Durch dieses Vorgehen werden die Risiken für die Organisation, in zentralen Bereichen der Geschäftstätigkeit nicht dauerhaft aussagefähig zu sein, reduziert.

Wichtig ist in allen Bewertungsansätzen, die Risiken zu analysieren. Risiken und Risikoanalyse betreffen keineswegs nur Aufzeichnungen, die im Recordsmanagement verarbeitet werden, sondern auch historische Archive. Die Bewertungsentscheidungen müssen sich der Risiken und Konsequenzen bewusst sein, die mit Aufbewahrung, Bedingungen der Aufbewahrung und Vernichtung von Aufzeichnungen verbunden sind.

Risikoquellen für die Überlieferungsbildung als Zielsetzung der Bewertungsverfahren können beispielsweise sein: gesellschaftlicher Druck, mangelnde Dokumentation der Bewertungsentscheidungen, fehlgeleiteter Aufwand und mangelnde Kostenkontrolle, Unterschätzung der Langzeitwirkung bzw. der Dauer des Primärwerts von Unterlagen. Die Gefahr von Fehlentscheidungen wächst mit den oft spürbaren Mängeln im Recordsmanagement der abgebenden Stellen.

Die Ansprüche der Überlieferungsbildung seitens der Öffentlichkeit gehen allerdings weit über die Aufbewahrung von Zeugnissen der bloßen Geschäftstätigkeit hinaus, wenn ein dokumentarisches Informationsinteresse verfolgt wird. Die damit verbundenen Erwartungen und Risiken fließen ebenfalls in die Bewertungsentscheidungen ein.

Bewertungsentscheidungen können nicht alle Wünsche und Erwartungen erfüllen. Es sollte aber deutlich werden, an welchen Punkten aus welchen Gründen ein hoher Dokumentationsgrad angestrebt wird. Schwerpunkte kirchlicher Überlieferungsbildung könnten beispielsweise in der Überlieferung von Aufzeichnungen über und von Pfarrpersonen liegen sowie in dem Bereich der lebensweltlichen Aktivitäten in den Gemeinden mit ihrer jeweils spezifischen Schwerpunktbildung.

Einige Arbeitshilfen auf dieser Seite können Ihnen bei den praktischen Bewertungsentscheidungen vielleicht helfen oder Anregungen geben.